Auf dem Tempelhofer Damm ist ein schöner neuer Radweg entstanden, der dort erstmals sicheres Radfahren auch für Kinder und Senioren ermöglicht. Doch wie kam es dazu? Hier die lange Geschichte dieses Stückchens Fahrradinfrastruktur:
Am 11.3.2008 wurde auf dem Tempelhofer Damm ein Radfahrendes 14-jähriges Mädchen von einem Lkw-Fahrer totgefahren. Aktive der adfc-Stadtteilgruppe forderten in den Jahren danach immer wieder einen Radweg. Vergebliche Mühe, denn bei den damaligen politischen Entscheidungsträgern fanden sie kein Gehör.
In ihrer Not entwickelten die damals beteiligten Verbände adfc, VCD und BUND sogar ein Nebenstrassenkonzept, doch auch daraus wurde nichts. Gut so, denn warum sollten Radfahrende Umwege fahren, nur damit Autos freie Bahn haben? Zumal die schmalen und mit Kopfstein gepflasterterten Nebenstrassen denkbar ungeeignet waren und eine weitere Brücke über den Teltowkanal nicht in Betracht kam.
Im April 2017 gründen engagierte Aktive des Volksentscheid Fahrrad das Netzwerk Fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg (NFTS), um im Bezirk endlich für gute Radwege zu sorgen. Gemeinsam mit der adfc-Stadtteilgruppe entsteht die Idee für einen sicheren Radweg auf dem T-Damm. Doch die PolitikerInnen im Bezirk (sogar die Grünen) winken ab: „Das ist ein dickes Brett. Das geht eigentlich nicht, dafür gibt es doch gar keinen Platz!“
Doch die Aktiven vermessen die Strasse, zählen Parkplätze und entwickeln schliesslich ein einfaches Konzept, das sogar ohne langwierige Bauarbeiten umsetzbar ist: Parkspur weg, Radweg hin. Die entfallenden Parkplätze machen nur 2,5% im Kiez aus, zudem gibt es in umliegenden Parkhäusern genug Platz. Es folgen eine Demo mit hunderten Teilnehmenden und viele Gespräche mit PolitikerInnen im Bezirk sowie der Unternehmerinitiative Tempelhofer Damm. Doch die Unterstützung bleibt zaghaft, das Projekt scheint zu gewagt.
Es entsteht deshalb die Idee, den Radweg als „Verkehrsversuch“ zu projektieren, denn die Berliner Wasserwerke planen damals noch, den gesamten Strassenzug in den kommenden Jahren komplett umzugraben. Bis dahin könnte man das Ganze ja mal ausprobieren, ohne dass es gleich dauerhaft werden muss. Radweg auf die Strasse malen, ein paar Poller hin, fertig.
Den nötigen Nachdruck bringt dann aber erst eine Unterschriftensammlung für einen sogannten „Einwohnerantrag“. Dafür sammeln die Aktiven innerhalb kurzer Zeit über 2000 Unterschriften. Feierlich wird dieser dann im Bezirksparlament (BVV) eingereicht, das nun darüber beraten muss. In unzähligen Hintergrundgesprächen lassen sich auch viele PolitikerInnen überzeugen und sagen ihre Unterstützung zu. Die SPD allerdings macht ein Beteiligungsverfahren zur Bedingung, das im Vorfeld stattfinden muss.
Gross ist der Jubel, als die BVV im September 2017 dem Antrag dann mehrheitlich mit den Stimmen von GRÜNEN, SPD, Linken und CDU zustimmt. Nun scheint es nur noch eine Sache von wenigen Monaten bis zur Umsetzung zu sein. Doch weit gefehlt. Es passiert erstmal nichts.
Erst nach einer weiteren Demo des NFTS beauftragt die zuständige Stadträtin Christiane Heiss (GRÜNE) die Prozesssteuerer „die raumplaner“ mit der Durchführung des Beteiligungsverfahrens. Die Auftaktveranstaltung findet dann endlich im August 2018 statt, fast ein ganzes Jahr nach dem BVV-Beschluss!
Im Flughafen Tempelhof lädt das Bezirksamt dazu interessierte BürgerInnen zur Diskussion ein, denn „Insbesondere für den Abschnitt zwischen Alt-Tempelhof und Teltowkanal bestehen erhebliche Zielkonflikte, auf die Antworten gefunden und erprobt werden sollen. Die verschiedenen Belange sollen in einem umfassenden Beteiligungsverfahren erfasst und zusammengeführt werden.“
Es folgen lange und zähe Monate. Ab Ende 2018 gibt es mehrere Treffen einer „Leitliniengruppe“, die dann erstmal eruiert, was überhaupt das Ziel eines Umbaues sein soll, wer davon betroffen ist, welche Interessen dabei berücksichtigt werden müssen und so weiter. Es folgt im März 2019 eine öffentliche „Ideenwerkstatt“ bei der es aus der Bürgerschaft ein überwältigendes Votum für sichere Radwege gibt. Ab Mai 2019 gibt es weitere Treffen der Leitliniengruppe, dort stellt das Planungsbüro erste Planungsvarianten vor. Nicht darin enthalten ist allerdings der ursprünglich geplante Verkehrsversuch, stattdessen werden verschiedene Möglichkeiten eines Endzustandes präsentiert, der wesentlich mehr zeitraubende Umbaumassnahmen erfordert. Stadträtin Heiss muss dafür vom NFTS ordentliche Kritik einstecken, denn das verzögert den ganzen Ablauf unnötig.
Es folgt eine Machbarkeitsstudie, die überarbeitete Planung wird der Leitliniengruppe im November 2019 vorgestellt. Kann es nun losgehen? Nein, erst muss das Ganze noch mit der Senatsverwaltung abgestimmt werden. Darüber gehen weitere Monate ins Land. Das NFTS drängelt im Juni 2020 mit einer weiteren Demo.
Ende Juni 2020 teilt das Bezirksamt der Leitliniengruppe mit, dass zwar die Zustimmung der Senatsverwaltung zum Vorhaben eingegangen sei, auch die Finanzierung in Höhe von 750.000 EUR sei dem Bezirksamt zugesichert worden, aber wegen des notwendigen Umbaus und der Umprogrammierung von Ampelanlagen könne der Radweg nicht mehr im Jahr 2020 errichtet werden. Der Bau werde erst im Jahr 2021 erfolgen können.
Inzwischen sind seit dem BVV-Beschluss fast drei Jahre vergangen, und der Radweg ist noch immer in weiter Ferne. Noch immer ist Radfahren auf dem T-Damm lebensgefährlich. Das NFTS demonstriert jetzt monatlich vor dem Rathaus Tempelhof für eine zügige Umsetzung.
Im September 2020 stellen Bezirksamt und Verkehrsplaner die technische Planung (Rotpläne) und den weiteren Zeitplan vor. Meilensteine sind u. a. die Prüfung der Bauplanungsunterlagen bis Ende November 2020 und eine Bauausführung von April bis Oktober 2021. Es stellt sich allerdings jetzt heraus, dass der beschlossenen Leitlinie nicht nachgekommen wurde, vorhandene Überbreiten dem Radweg zuzuschlagen. Stattdessen wurde häufig der rechte Fahrstreifen überbreit ausgebildet, während der geschützte Radfahrstreifen nur Mindestmaße aufweist. Nun ja, sagt das Bezirksamt, entweder müssten die angeordneten Pläne jetzt so akzeptiert werden, oder es müsse umgeplant werden, was sehr lange dauern würde. Friss oder stirb.
Im Dezember 2020 endlich verkündet das Bezirksamt, dass die Bauplanungsunterlage nun an die Senatsverwaltung übergeben wurde und die Prüfung bis März 2021 erfolgen solle.
Etwas Aufregung gibt es im Februar 2021. Ein paar um ihre Parkplätze besorgte Bürger sind wach geworden und starten eine kleine Flugblattaktion. Die CDU wittert Morgenluft und springt mit auf. Sie beantragt in der BVV ein „Moratorium“ zur Verhinderung einer „überhasteten Umsetzung“ (sic!) des geplanten Umbaus des T-Damms. Stattdessen solle das längst verworfene Fahrradnebenroutenkonzept umgesetzt werden (ja, das mit den Kopfsteinpflasterstrassen und der fehlenden Brücke). Nun ja. Der CDU-Antrag wird in der BVV von GRÜNEN, SPD und Linke mehrheitlich abgelehnt.
Die Aktiven des NFTS sind inzwischen ziemlich sauer. Seit dem Beschluss der BVV vor über drei Jahren sind mehr als 30 Verkehrsunfälle mit Radfahrenden auf dem T-Damm passiert. Trotzdem ist der Radweg noch lange nicht in Sicht. Bei der monatlichen Demonstration stellen sie ein orange lackiertes „Ermahnrad“ vor dem Rathaus auf. Es soll die Verantwortlichen daran erinnern, endlich zu Potte zu kommen.
Am 12.3. 2021 informiert das Bezirksamt die Leitliniengruppe über weiteren Terminverzug: Die Prüfung der Bauplanungsunterlagen durch die Senatsverwaltung verzögere sich, weil weitere Änderungen notwendig seien. Der Baubeginn solle nun erst im vierten Quartal 2021 erfolgen, also wieder ein paar Monate später als angekündigt.
Aber Ende März 2021 kommt es dann zu einer für alle (auch das Bezirksamt) überraschenden Wendung. Die BVG muss die Gleise der unter dem T-Damm liegenden U-Bahn sanieren. Für den notwendigen Schienenersatzverkehr soll ab April eine Busspur eingerichtet werden, und zwar auf der bisherigen Parkspur. Alle Parklätze fallen weg! Die Senatsverwaltung hatte das zwar schon vor Monaten mit der BVG abgesprochen, jedoch versäumt, das Bezirksamt zu informieren. Dit is Berlin.
Nun wird ein breiter Sonderfahrstreifen auf dem T-Damm gelb markiert, der zur Freude der Radfahrenden als Radweg (BVG frei) ausgeschildert wird. Wer sich mit den Bussen und einigen Falschparkern arrangiert, kann dort nun flott Radfahren. Und zwar auch auf dem Mariendorfer Damm bis Alt-Mariendorf. Also: es kann auch ganz schnell gehen, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen.
Für den richtigen geschützten Radweg sind aber inzwischen weitere Termine ohne Ergebnis verstrichen:
Die Bauplanungsunterlage wird nach Auskunft von Stadträtin Heiß erst zu Ostern 2021 nach vielen redaktionellen Abstimmungsrunden zwischen Bezirksamt und SenUVK fertiggestellt. Sie ist aber immer noch nicht genehmigt.
Die Vorbereitung der Ausschreibung für die Bauleistung hat auch noch nicht begonnen. Das Netzwerk NFTS demonstriert erneut. (taz-Artikel dazu) Erst im September 2021 beauftragt das Bezirksamt dann endlich eine Baufirma mit den Baumaßnahmen für den endgültigen Radweg.
Nach dem Ende der U-Bahnbauarbeiten im Oktober bleibt der provisorische Radfahrstreifen glücklicherweise bestehen. Die Autofahrer haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass sie auf dem T-Damm nicht mehr parken können, das soll auch so bleiben.
Am 3.11.21 veranstaltet Bezirksstadträtin Heiß eine Feier des Bezirksamts vor dem Rathaus und lobt darin die für Berliner Verhältnisse recht schnelle Planung. Der für den 10.11.21 vorgesehene Baustart findet allerdings nicht statt. Nach Auskunft der Abteilung Verkehrsmanagement SenUVK hat die Baufirma die Pläne für die bauzeitliche Verkehrsführung zu spät eingereicht. Das hätte aber sechs Wochen vor Baustart geschehen müssen.
Mitte November tritt die neue Bezirkstadträtin Saskia Ellenbeck (ebenfalls GRÜNE) ihr Amt an und löst ihre Vorgängerin Christiane Heiss ab. Wird es nun schneller voran gehen?
Im Januar 2022 endlich beginnen so langsam die Bauarbeiten. Zunächst werden Gullis und Fahrbahndecke saniert, an der Götzstraße muss eine Gehwegvorstreckung entfernt werden. Ampelanlagen müssen angepasst und die Markierungen für den Radweg aufgebracht werden. 500 Plastikpoller werden aufgestellt.
Die weiteren Arbeiten – Aufstellen von Leitboys und Pollern – verzögern sich allerdings, weil sich das Bezirksamt entschieden hat, mit finanziellen Mitteln aus der Pkw-Maut erstmal noch ein paar schadhafte Abschnitte der Kfz-Fahrbahn zu sanieren.
Am 29.4.22 gibt es ein „Anradeln“ mit der neuen Stadträtin Saskia Ellenbeck auf dem leider nur teilweise fertiggestellten Radweg. Es fehlen auf einigen Abschnitten noch die Markierungen, die Poller und die Leitboys.
Die Bauarbeiten werden dann allerdings vorerst eingestellt. Begründung des Bezirksamts: Es gibt umfangreichen Abstimmungsbedarf zur bauzeitlichen Verkehrsführung zwischen dem Bezirksamt und der Senatsverwaltung sowie mit der BVG.
Erst im September 2022 geht es weiter. Die Fahrbahn wird an einigen Stellen saniert, weitere Poller und Leitboys werden angebracht. Diese sind allerdings kleiner als geplant und müssen später ausgetauscht werden.
Am 21.10.22 findet nun die feierliche Eröffnung einer – fast fertigen – Radverkehrsanlage statt. Ein paar Baustellen gibt es ja noch, am Teltowkanal ist wegen der Brückensanierung stadteinwärts vorerst ein provisorischer Radweg auf den Gehweg gepinselt. Wann das fertig ist, steht in den Sternen.
Fazit: es lohnt sich durchaus, sich für gute Radinfrastruktur zu engagieren. Allerdings braucht es dafür wirklich einen langen Atem, gehöriges Engagement und hohe Frustrationstoleranz. Aber mit tatkräftigen MitstreiterInnen (und einigen Verbündeten in der Politik) ist es dem NFTS gelungen, diesen für Berlin wichtigen Pflock einzurammen. Wir haben jetzt dort einen Radweg, der entspanntes und einigermaßen sicheres Radfahren auf dem Tempelhofer Damm ermöglicht. Und viele Menschen machen das auch. Ist das nun das Nonplusultra der Radinfrastruktur? Nein. Wer mal in den Niederlanden war, weiss, dass wir in Deutschland noch weit davon entfernt sind. Dort sind die Radwege breiter, deutlicher vom motorisierten Verkehr getrennt und die Kreuzungen viel durchdachter gestaltet. Es ist also noch sehr viel Luft nach oben.
Aber noch ein Schmankerl zum Schluss: der Radweg soll in den kommenden Monaten noch über den Mariendorfer Damm bis Alt-Mariendorf verlängert werden. Wir freuen uns schon.