Am 19.7.2017 hat die Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg einen Antrag zur Radverkehrsanlage auf dem Tempelhofer Damm von SPD und Bündnis90/Die Grünen beschlossen. Zugestimmt hat auch die CDU-Fraktion. Wie ist dieser Beschluss zu bewerten?
Dazu beschreiben wir zunächst, warum wir den Ursprungsantrag als Abwehrantrag verstanden haben. Wir führen aus, dass dem Fehlannahmen zugrunde liegen und warum Radwege am Tempelhofer Damm die Aufenthaltsqualität für alle verbessern. Wer keine Zeit hat, kann direkt zu unserer Bewertung des BVV-Beschlusses springen. Deren Quintessenz ist: Von kritischen Details abgesehen, benennt der Beschluss für die Zeit nach 2025 und den großen Bauarbeiten ein sinnvolles Vorgehen, die dauerhafte Straßengestaltung zu planen. Jedoch besteht bereits vorher ein akuter Handlungsbedarf.
Ein Abwehrantrag
Der Beschluss (Drs. 0261/XX) geht auf einen Antrag zurück, den Christoph Götz, Bezirksverordneter der SPD (und für diese Fraktion zudem stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Stadtentwicklungspolitischer Sprecher, Schriftführer im Ausschuss für Straßen, Verkehr, Grünflächen und Umwelt) im April eingebracht hat. Wie die damalige und auch die neueste Presseerklärung der SPD-Fraktion zum Thema zeigt, ist dieser Antrag zu verstehen als Abwehrantrag gegen unser Konzept, die vorhandenen Parkstreifen sehr zeitnah in eine geschützte Radspur umzuwandeln. In der letzten Äußerung vom 20.7. wird dies klar formuliert:
Eine schematische (sic!) Lösung zur Führung des Radverkehrs auf der heutigen Parkspur, wie vom Fahrrad-Volksentscheid gefordert, wird damit eine Absage erteilt.
Zudem wird in dieser Pressemitteilung die im Ursprungsantrag noch vorhandene Begründung in abgeschwächter Form erneut aufgegriffen
Der Fehler der Vergangenheit, einzig den Verkehrsaspekt zu betonen, darf nicht – auch nicht mit neuem verkehrspolitischen Anstrich – wiederholt werden.
Implizit wird damit an unseren Forderungen kritisiert,
- dass sie einseitig seien, weil sie sich nur mit Verkehrsfragen befassen und nur den Radverkehr begünstigen, mehr aber nicht in den Blick nähmen,
- dass sie schematisch seien, weil die gleiche Lösung an allen Stellen der Stadt vorgeschlagen wird
- und dass damit einfache Lösungen propagiert würden, welche die Gegebenheiten vor Ort und die berechtigten Interessen Dritter vernachlässigten.
In einem vermeintlichen Gegensatz wird dem ein ganzheitlicher Ansatz einer Stadtentwicklungsperspektive gegenübergestellt, der an alle denke und auch alle berücksichtige. Hiernach gehe es primär darum, den Tempelhofer Damm in seiner Funktion als Stadtteilzentrum zu fördern. Insbesondere der gefährdete lokale Handel sei zu stabilisieren und zu schützen – und mit ihm die PKW-Stellflächen, die für den Kunden- und Lieferverkehr gebraucht werde. In dieser Perspektive sei der Radverkehr nur ein Teil einer ganzen Reihe von Problemen, die auf dem Tempelhofer Damm anzugehen sind. Deswegen haben sich Fragen des Radverkehrs auch in die Gesamtgemengelage einzufügen. Statt einer einseitigen Schnellschusslösung – die, wie damals zur Einführung der Busspuren, nur neue Probleme schaffe oder gar die alten noch vergrößere – wird eine umfassende Planung für eine „große“ Lösung gefordert, die mit mehr Aufwand dann auch allen gerecht werden würde.
Falsche Annahmen führen zu falschen Urteilen
Wir sehen darin eine Reihe von Fehlannahmen, beziehungsweise Fehlschlüssen. Die Betrachtung von Verkehrsproblemen und Stadtentwicklungsfragen schließt sich nicht aus und muss nicht gegenläufig sein. In verkehrlicher Perspektive stellt der Tempelhofer Damm jedoch ein massives Problem für den Radverkehr dar, das akut zu lösen ist. Der Radverkehr wird derzeit schutzlos durch eine autobahnähnlich gebaute und genutzte Straße geführt. Insofern ist eine Radspur ein unbedingt nötiges Verkehrsprojekt. Mehr als den Verkehrsaspekt betont sie die Rücksichtnahme auf die Schwächeren, die im Straßenverkehr immer mitzudenken ist. Es ist keine verkehrliche Überbetonung, sondern sichert Mobilität für alle Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer.
Unbenutzbare Radwege gibt es in der Stadt genug. Wenn es darum geht, neue einzurichten, dann sollte man es richtig machen, so dass sie sowohl den Vorschriften als auch den verkehrlichen Anforderungen genügen. Die Kriterien dafür sind vor allem die Punkte “Sicherheit und Ordnung” und dienen dem Schutz von Leib und Leben. Eine Radverkehrsanlage muss für alle intuitiv erkennbar und verständlich sein, nur dann wird sie genutzt, nur dann wird sie respektiert. Und nur, wenn eine Radverkehrsanlage intuitiv als sicher, praktisch und komfortabel angesehen wird, nur dann ist sie eine Einladung, statt des Autos das Fahrrad zu benutzen. Was also als „schematische Lösung“ bezeichnet wird, ist im Sinne der leichten Wiedererkennbarkeit gewollt und dient der Verkehrssicherheit.
Das Grundmissverständnis liegt darin, dass wir – nur weil unsere Kernforderung für den Tempelhofer Damm eine sichere Radspur ist – uns nicht für die Belange einer guten Entwicklung unseres Kiezes interessierten. Gerade weil wir den Ort, an dem wir leben und arbeiten, lebenswerter machen wollen, setzen wir uns für eine gute Fahrradinfrastruktur ein.
Mehr Lebensqualität für alle Nutzer*innen des Tempelhofer Damms
Eine gute Fahrradspur nutzt allen:
- Im Verkehr reduzieren sich die Konflikte zwischen den Verkehrsteilnehmenden. Während das Ortszentrum mit Kaufhaus, Rathaus, Arztpraxen und Einzelhandel unkompliziert mit dem Rad und ohne Angst erreicht werden kann, werden Autofahrende nicht mehr zu engen Überholmanövern verleitet und auch die Gehwege von verängstigten Radfahrenden befreit. Insbesondere der letzte Punkt erhöht unmittelbar die Aufenthaltsqualität für Fußgänger*innen.
- Eine Radverkehrsanlage entlastet den Autoverkehr, weil sie das Umsteigen auf das Fahrrad ermöglicht. Dadurch müssen Anwohnende und Gewerbetreibende mit weniger Lärm und Abgasen kämpfen. Auch wer weiterhin auf ein Auto angewiesen ist, kann mit weniger Staus rechnen, weil einfach weniger Autos unterwegs sind.
- Fahrradverkehr stärkt den lokalen Handel. Die Geschäfte leben nicht von Autos, sondern von Kundinnen und Kunden. Internationale Studien zeigen, dass der Anteil der Autokunden zumeist deutlich überschätzt wird. Wenn der Tempelhofer Damm für den Radverkehr geöffnet wird, dann erhöht sich für die Geschäfte die Laufkundschaft. Radfahrende können, im Gegensatz zu Autofahrenden, hinter der Parkspur die Läden sehen und spontan anhalten, weil sie keinen Parkplatz suchen müssen. Sie kaufen zwar pro Einkauf weniger, kaufen aber häufiger kleine Mengen und erzeugen damit mehr Umsatz. Weil ein Fahrrad auch weniger laufende Kosten erzeugt, verfügen sie auch über eine höhere Kaufkraft.
Selbstverständlich ist für eine gute Handelsstruktur dem nötigen Wirtschaftsverkehr Rechnung zu tragen. Der heutige Lieferverkehr benötigt während eines kurzen Zeitfensters einen eng begrenzten Raum. Derzeit wird dieses Haltebedürfnis in zweiter Reihe realisiert, denn die Parkplätze sind für den Lieferverkehr nur selten frei. Dies verursacht Staus und gefährdet Radfahrende noch mehr. Unser Ziel muss sein, den Umweltverbund aus Fuß-, Rad- und Öffentlichem Verkehr zu stärken. Wenn diese eine leistungsfähige Alternative bilden, dann können auf einer der beiden verbleibenden Fahrspuren auch Kurzhalte ermöglicht werden, ohne den Autoverkehr übermäßig zu behindern – vormittags stadtauswärts, nachmittags stadteinwärts. Unseriös wäre es jedoch, den Wirtschaftsverkehr bloß vorzuschieben, um dem Konflikt mit dem Dauerparken auszuweichen.
Unsere Bewertung der BVV-Entscheidung
Der Beschluss spiegelt die oben dargelegte Haltung wider. Es geht weniger um eine Radverkehrsanlage als um Stadtentwicklung. Es werden sehr viele weitere Interessen ins Spiel gebracht, die auch zu berücksichtigen seien. Die Fahrradinfrastruktur kommt folglich mengenmäßig nur am Rande vor (einmal in der Überschrift, zweimal im langen Text). Bei genauer Betrachtung wird keine Radverkehrsanlage gefordert, sondern sie wird zum Anlass genommen, eine langfristige und überlegte Planung anzuschieben, die alle Beteiligten einbezieht.
Am Tempelhofer Damm soll in den nächsten Jahrzehnten abschnittsweise Richtung Süden die Kanalisation erneuert werden. Für die Zeit danach muss eine Gestaltung der Straße geplant werden. Das geschieht sinnvollerweise mit der im Antrag beschriebenen umfassenden Beteiligung.
Jedoch bleibt der Beschluss bezüglich der Fahrradinfrastruktur hinter den nötigen Anforderungen zurück. So sagt er nicht, wie die zukünftige Radverkehrsanlage aussehen soll, welche Qualitäten sie haben soll. Es wird vage von “vernünftigen Bedingungen” gesprochen.
Der für die Umsetzung maßgebliche letzte Absatz wird nicht konkret, sondern deutet durch die Maßnahmen nur an, was rauskommen soll: Unter Einbeziehung des Mittelstreifens sowie durch schmalere Autospuren (ermöglicht durch Tempo 30) sowie angepasster Abbiegemöglichkeiten soll anscheinend die Zahl der Fahrspuren erhalten bleiben. Dass zudem die Parkspuren das große Tabu des Antrags sind, also anscheinend nicht angefasst werden sollen, lässt nur folgenden Schluss zu: Der Radverkehr soll irgendwie noch dazwischen gedrängt werden.
Damit bleibt die Grundperspektive, dass der Platz des Radverkehrs sich danach bemisst, wieviel Raum der Kraftverkehr erübrigen und wie viel zusätzlicher Raum noch aus anderen Quellen gehoben werden kann. Ein fußgänger- und fahrradfreundlicher Blickwinkel würde unter Berücksichtigung von richtig dimensionierten Fußwegen dagegen zuerst prüfen, welcher Raum und welche sichernden Maßnahmen, insbesondere für unsichere Radfahrende wie Kinder, nötig sind. Erst danach würde die restliche Fläche dem stehenden oder fließenden Autoverkehr zugeteilt werden. Selbst mit dieser Herangehensweise würde nach einer Neuverteilung der knapp 19 Meter Abstand vom Bordstein links zum Bordstein rechts der Kraftfahrzeugverkehr weiterhin den Großteil der Fläche des Tempelhofer Damms für sich beanspruchen können. Pragmatisch gesehen lässt sich das Prinzip der Fahrrad- und Fußgängerfreundlichkeit allerdings noch im Planungsverfahren einbringen. Insofern findet das Vorhaben natürlich unsere grundsätzliche Zustimmung.
Das Thema ist damit allerdings längst nicht erledigt. Da das Ende der Bauphase vermutlich noch ein Jahrzehnt entfernt ist, ist eine vorherige Übergangsregelung ohne viel Aufwand nach wie vor akut erforderlich. Ein aktuell eingeschultes Kind soll nicht erst zum letzten Schultag einen sicheren Schulweg haben. Die Behebung der aktuellen Verkehrsgefährdung darf nicht länger als nötig verschleppt werden. Jeder Tag, an dem die Menschen dort auf dem Fahrrad mit Angst unterwegs sind oder allein aus diesem Grund ins Auto steigen, ist einer zu viel. Für eine rasch umsetzbare Lösung hierfür haben mehr als 2000 Einwohner*innen unseren Antrag unterschrieben, der die notwendigen kurzfristigen Maßnahmen einfordert. Dieser hat sich noch nicht erledigt und bleibt nach wie vor drängend.
Zugleich ist die Zeit vor dem Umbau als günstige Gelegenheit zu verstehen. Jetzt kann man noch mit einfachen Mitteln ausprobieren, wie später etwas dauerhaft in Beton gegossen werden soll. Eine Behebung der akuten Gefahr kollidiert nicht mit einer einer langfristigen Planung über eine gute Zukunft des Stadtzentrums. Sondern beides kann und sollte parallel erfolgen.